Aegyo oder warum die Liebe in Korea nur langsam wächst | NZZ (2024)

Wie alle ostasiatischen Kulturen ist die Kultur Koreas für Menschen aus dem Westen nicht immer leicht durchschaubar. So ticken die Koreaner in Beziehungs- und Liebesdingen ziemlich anders. Das Schlüsselwort dazu heisst: Aegyo.

Hoo Nam Seelmann

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Koreanische Kulturprodukte wie K-Pop, Unterhaltungssendungen, Filme und Fernsehserien sind nicht nur in ganz Asien beliebt, sondern werden auch in Europa und Amerika konsumiert. Gewisse Eigenheiten darin lösen jedoch bei westlichen Zuschauern Erstaunen aus. Fremd wirkt wohl, wie Mann und Frau sich begegnen, miteinander kommunizieren und vor allem wie junge Frauen sich geben. Sie erscheinen kindlich, naiv, niedlich und süss, alles Eigenschaften, die man im Westen bei erwachsenen Frauen nicht vermutet.

Wie lässt sich dieser kulturelle Unterschied erklären? Die Analyse eines zentralen Begriffs, nämlich Aegyo, könnte den kulturellen Hintergrund beleuchten. Da es keine Entsprechung dafür in westlichen Sprachen gibt, fand inzwischen dieser koreanische Begriff Eingang ins Netz. Interessant ist, dass er der Eltern-Kind-Beziehung entstammt. Er übt jedoch in gewandelter und verfeinerter Form eine wichtige Funktion in der Gesellschaft aus. Will man diesen Begriff verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die Kindheit in Korea zu werfen.

Symbiotische Beziehung zur Mutter

In Korea ist die Familie für die Einzelnen von grösserer existenzieller Bedeutung, als dies im Westen der Fall ist. Man ordnet das ganze Leben um die Familie herum. Die Kinder haben wie überall auch in Korea eine Sonderstellung. Das erste Lächeln, das erste Wort, der erste Schritt, alles löst Begeisterung aus. Kindsein heisst ohne Grund geliebt sein, durch das blosse Dasein Entzücken auslösen.

Macht jemand unpassenden Gebrauch von Aegyo, kann das leicht vulgär, unreif, lächerlich und deplaciert wirken.

Die Liebe der Eltern lässt Zutrauen zur Welt entstehen. Die Kinder sehen wiederum, dass sie für die Eltern Wonne bedeuten. Sie werden ermutigt, die Eltern zu erfreuen und deren Liebe zu bestärken: durch tanzen, singen, Küsse verteilen, umarmen, mit Händen ein Herz-Zeichen machen usw. Das nennt man Ayang, Jaerong oder Aegyo. Kennt ein Kind so etwas nicht, kann seine Kindheit nur unglücklich gewesen sein. Gewandelt als eine Art Kulturtechnik, schaffte Aegyo, sich in der Welt der Erwachsenen zu etablieren.

Ein Kind bleibt in Korea länger in symbiotischer Beziehung mit der Mutter. Es ist ständig bei der Mutter und schläft bei ihr. Während es in Europa schon früh zur Selbständigkeit angehalten wird, drängt man es in Korea nicht zu sehr dazu. Die Mutter hält es «beschützend im Busen umschlossen». Da die Pubertät in Korea nicht jene Brüche herbeiführt, die in Europa entscheidend für die Abnabelung von der Familie sind, bleibt das tief verinnerlichte Muster der Kindheit weit in die Erwachsenenzeit hinein wirksam. Kindheit ist zudem emotional positiv besetzt, so dass sie ein Leben lang Sehnsuchtsort bleibt.

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Hoo Nam Seelmann

In diesem kulturellen Milieu steht Aegyo. Es bedeutet, sich liebreizend zu verhalten, so dass man gemocht und geliebt wird. Die Kinder lernen früh, wie sie die Eltern in gute Stimmung versetzen können, vor allem wenn sie etwas wollen. Auch Schüler und Studenten betrachten aegyohaftes Verhalten den Eltern gegenüber als Liebesbeweis.

Der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen, also der Gender-Gap, tritt allmählich ein. Die Jungen bemerken mit der Zeit, dass ein solches Verhalten mehr von Mädchen erwartet wird. Aber der Bruch ist nicht ganz durchgängig, das heisst es gibt auch Männer mit femininen Charaktermerkmalen. Das Repertoire variiert individuell und nach dem Alter, aber die Grundelemente bleiben dieselben: anlächeln, sprechen in weichem, leicht erhöhtem nasalem Ton, umarmen, Wangen küssen, sich an den Arm hängen, klatschen, den Oberkörper schütteln, auf und ab hüpfen, von sich in der dritten Person reden, die Sätze in eine andere Melodie versetzen, indem man die Endungen rhythmisch in die Länge zieht und anhebt.

Das Werden der Liebe

Mit dem Eintritt in die Berufswelt muss man lernen, wann, wie und gegenüber wem ein aegyohaftes Benehmen angebracht ist. Denn Aegyo ist ein Zeichen der Nähe und Intimität. Macht jemand einen unpassenden Gebrauch davon, kann das leicht vulgär, unreif, lächerlich und deplaciert wirken. Es gibt einige allgemeine Regeln: Bei Frauen ist Aegyo eher angebracht. Nur jüngere dürfen sich gegenüber älteren Personen aegyohaft verhalten, aber nicht umgekehrt. Es muss natürlich aussehen und darf nicht zu zweckorientiert erscheinen. Aegyo wird eher im privaten Rahmen erwartet, nicht im beruflichen Umfeld. Wird man älter, ändert sich die Rolle: Aus dem Aegyo-Geber werden dessen Adressat und Empfänger. Ältere sollen sich dem Alter gemäss benehmen.

In der koreanischen Kultur ist die Liebe etwas, das in einem Prozess aufkeimt, erblüht und wächst.

Eine wichtige Funktion übt Aegyo im Werden der Liebe zwischen Mann und Frau aus. Liebe im Westen folgt einem bestimmten Muster, das eine kulturtypische Form besitzt. Vom Mythos des Eros getragen und von der Idee der romantischen Liebe genährt, ist die Liebe eine besondere Art der Evidenzerfahrung: Diese Person ist es! Weiter ist die Liebe im Westen Begehren, das darum eng mit der Sexualität verknüpft ist. Sex wird nicht umsonst als Liebes-Akt bezeichnet. Da die Liebe schon am Anfang da ist, geht es bei Liebesgeschichten in Europa mehr um das Ausleben oder Scheitern der Liebe und weniger um deren Entstehen.

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Hoo Nam Seelmann

In der koreanischen Kultur ist jedoch die Liebe etwas, das in einem Prozess aufkeimt, erblüht und wächst. Vom Pfeil des Eros ist selten jemand getroffen, sondern die Liebe entsteht leise und unbemerkt. Aus jeder Begegnung kann eine Liebe hervorgehen. In diesem Prozess fördert Aegyo die Annäherung und markiert zugleich den Stand der Intimität. Liebe heisst Nähe suchen, berühren, gemeinsam Dinge tun, erleben und füreinander da sein. Liebe ist auch umsorgen, besorgt sein, beschützen, beglücken. In Korea sagt man als Liebesgeständnis: «Ich werde ein Leben lang ein Zaun um dich sein», oder «Ich werde die Schulter sein, an die du dich anlehnen kannst». Das klingt nicht sehr nach romantischer Liebe, sondern mehr nach einer am Alltagsleben orientierten Version davon.

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Sich näherkommen heisst, man kommuniziert anders. Die formelle höfliche Art zu sprechen macht Platz für neckische Bemerkungen, man ruft an, scherzt und redet über Belanglosigkeiten. Die Körpersprache ändert sich mit. Ein feines Gefühl ist erforderlich, um zu wissen, wann man in dieses Werden der Liebe das aegyohafte Verhalten einfliessen lassen kann.

Dass eine Frau sich das zutraut, heisst, dass sie ein grosses Zutrauen hat, so wie ein Kind einem Familienmitglied gegenüber. Das bedeutet, dass sie des liebevollen Blickes des Mannes gewiss ist. Erleichtert wird ein solches Verhalten bei jungen Frauen, weil sie den in der Regel älteren Freund mit «Oppa» anreden, ein Wort, das innerhalb der Familie die jüngere Schwester benutzt, um den älteren Bruder zu rufen. Wenn ein Mann als Oppa angeredet werden will, heisst dies, er möchte der Freund sein.

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Aegyo leistet auch in der Ehe gute Dienste, um die Liebe zu pflegen und Konflikte zu meistern. Will man sich versöhnen, wird es eingesetzt, um den anderen weicher, versöhnlicher zu stimmen. Koreanische Männer lieben es, Freundinnen und Ehefrauen gegenüber, die voll von Aegyo sind, nachzugeben, von ihnen umgarnt zu werden und ihnen Wünsche zu erfüllen. Aegyo wird in Umfragen von Männern als die wünschenswerte Eigenschaft der Partnerin genannt. Die Frauen umsorgen dafür die Männer beinahe mütterlich und besorgen die Familienfinanzen. In Korea fühlen sich die Frauen auch für die Pflege des sozialen Netzes und für die Kommunikation verantwortlich. Aegyo dient hier jenseits der Gleichheit von Mann und Frau als ein kulturell wichtiges Schmiermittel für das Zusammenleben. In Korea glaubt man, dass die Mutter aller Liebe die Mutterliebe ist.

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